Ein Lauf für Generationen

Der kleine Bub steht mit großen Augen an der Hand seines Großvaters, nur wenige Meter von seinem Elternhaus entfernt im Zielraum des Karwendelmarsches und ist fasziniert von den Männern und Frauen, die gerade abgekämpft, aber in der Mehrzahl doch mit einem Lächeln im Gesicht unter dem Applaus der Zuschauer in Pertisau ankommen.

„Opa, wia håsch gsågt hoaßt des, von wo die hergloffn sen?“

„Scharnitz, Bua.“

„Is des weiter wia aufs Plumsjoch?“

Der Großvater schmunzelt: „Jå, viel weiter!“

Der Bub staunt und fragt ungläubig: „Sogår weiter wia aufs Lamsenjoch?“

„Jå, seeehr viel weiter! Ungefähr so weit, wie zur Tante in Bad Tölz, aber hålt no mit am Haufn Berg dazwischen!“

Der kleine Bub ist beeindruckt. Plumsjoch und Lamsenjoch hat er mit seinem Opa schon erklommen und das war sooo anstrengend. Sogar die Runde um den See haben sie gemeinsam geschafft (oder zumindest fast, in der Gaisalm hatte der alte Bergfex ein Einsehen und die letzten Kilometer zurück nach Pertisau mit seinem todmüden Enkel auf dem Dampfer zurückgelegt). Aber dass Leute derart weit gelaufen sein sollen, übersteigt seine Vorstellungskraft. Nichtsdestotrotz reift ein fester Entschluss in ihm: „Opa, wenn i amol groß bin, dann lauf i a mit!“ Der Großvater lächelt gutmütig und meint nur „Jå, Bua – wenn groß bist tuast da a mit. Aber bis dahin is schon no a bissl Zeit!“

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Die Oberschenkel brennen, die Knie zwicken und in den Schmerz mischt sich Euphorie und in die Euphorie die Erinnerung an den kleinen Buben. Mehr als nur „a bissl Zeit“ sind seit jenem Tag im Zielgelände vergangen, fast vierzig Jahre, in denen sich die Welt ein gutes Stück weitergedreht hat und in denen der Bub so manchen Weg und so manchen Irrweg beschritten hat.

Der Karwendelmarsch war 1991 vorübergehend Geschichte und damit geriet auch der damalige Entschluss in Vergessenheit. Nach Teenagerjahren mit, nun ja, viel anderweitigem Leben und wenig Sport gewann irgendwann doch die Lust an der Bewegung, am Training und an Wettkämpfen die Oberhand. Es folgten schließlich Teilnahmen beim Wienmarathon (und im Anschluss das vorübergehende Ende der Laufkarriere), bei verschiedenen Rad- und Langlaufmarathons – und nach zaghaftem Wiedereinstieg ins Laufen vor ein paar Jahren auch beim Achenseelauf. Schließlich wurde beim Stecken neuer Ziele klar: Es ist nun langsam an der Zeit, das Versprechen von damals einzulösen.

Als er nun hier und heute nach zahllosen Trainingsstunden die letzten Meter Richtung Zielbogen zurücklegt, hört er schon die Stimme des Platzsprechers und den Applaus der Zuschauer – und neben ihm laufen seine Töchter und Nichten, die ihn auf den letzten paar Metern durch Pertisau begleiten. Plötzlich ist es nicht mehr nur der Regen, der sein Gesicht feucht werden lässt, denn ihm wird klar, dass er heute nicht nur seine Grenzen ausgelotet und mit einer Endzeit von 5:55 Stunden sein selbstgestecktes Ziel erreicht, sondern vor allem auch das kleine Kind von damals sehr stolz gemacht hat. Und als nach dem Zieleinlauf einzelne Sonnenstrahlen durch die Wolken brechen ist es, als würde der Großvater wieder gutmütig dazu lächeln.

Irgendwie schließt sich endgültig ein Kreis, als er später auf dem Heimweg die entschlossene Stimme seiner älteren Tochter vernimmt: „Papa, wenn i amol groß bin, dånn will i a beim Karwendellauf mitmachen!“

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